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Wiege und Grab des Neoliberalismus? Chile seit Oktober 2019.

Actualizado: 3 feb 2021

Jose Cáceres Mardones und Malte Seiwerth. Zürich, Schweiz


Vor einem halben Jahr begann in Chile eine Protestwelle unbekannten Ausmasses. Diese wurden weltweit gefeiert: «Chile wird das Grab des Neoliberalismus», hiess es in manchen Aussagen. Doch die aktuelle Coronakrise zeigt erneut: Die neoliberale Politik hat tiefgreifende Probleme hinterlassen und ein schneller Wandel ist nicht in Sicht.


Samstag, 20. Oktober 2019. Kurz nach Mitternacht ruft der konservative Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand für die Hauptstadt Santiago aus, worauf ca. 500 Militärs die Strassen kontrollieren. Am selben Tag gegen 19:30 Uhr verhängt General Javier Iturriaga del Campo, den Piñera als Chef der nationalen Verteidigung einsetzt hatte, eine Ausgangssperre von 22:00 bis 06:00 Uhr für den Gran Santiago – die hauptstädtische Agglomerationen, wo fünf Millionen Menschen leben. Am Sonntagabend tritt der chilenische Präsident vor die Medien und sagt: "Wir befinden uns im Krieg gegen einen gefährlichen Feind". In wenigen Tagen hat sich die wirtschaftliche und politische Oase, wie Piñera Chile in einem Interview vor Kurzem bezeichnet hatte, in eine Art Krisengebiet verwandelt. Ausnahmezustand, Militärs auf den Strassen, Ausgangssperren und gewaltsame Repression durch den Sicherheitsapparat beschwören die Dämone und Phantome der vergangen geglaubten Diktatur herauf. “Fast wie zu Zeiten Pinochets” betitelte “Die Zeit” die Situation.


Oktober Revolte: ein neues Chile

Am 6. Oktober 2019 wurden die U-Bahn-Tickets auf Geheiss der Regierung um 30 Pesos (4 Rappen) erhöht. Am folgenden Tag begannen Schülerinnen und Studierende damit, systematisch über die Zugangsbarrieren zu springen. “Evade” (was mit „sich entziehen“ oder „vermeiden“ übersetzt werden kann) war der Slogan dieses anfänglichen Protests, der allmählich in Gewalt umschlug: Die Polizei verfolgte die Demonstrierenden mit Wasserwerfern und Tränengas, U-Bahn-Stationen, Züge und andere Gebäude wurden angezündet. Der chilenische Präsident und seine MinisterInnen beschrieben die Situation als ein Problem der öffentlichen Ordnung und ignorierten die politische Dimension der Proteste. Die DemonstrantInnen seien “echte Kriminelle”, verkündete Piñera. Die Kriminalisierung sozialer Demonstrationen ist keine neue Strategie der konservativen Regierung. Während Piñeras erster Regierungszeit (2010-2014) kam es 2011 mehrmals zu studentischen Unruhen, in deren Zentrum die Forderung nach kostenloser Bildung stand. Damals bezeichnete Piñera die Proteste als „reine“ Delinquenz. Die Demonstration der Mapuches, einer indigene Bevölkerungsgruppe Chiles, in den Jahren 2011 und 2018 tat er als terroristische Handlungen ab. Trotz des Ausnahmezustandes setzen die Proteste fort und führen am 25. Oktober zur historischen Demonstration, die mehr als ein Million Menschen in den Strassen Santiagos und in anderen Städten Chiles wie Valparaíso, Concepción und La Serena versammelte. Obwohl der Ausnahmezustand beendet worden ist, stieg die staatliche Repression in den Händen der Polizei, die zu zahlenreichen Menschenrechtenverletzungen führte, wie Amnesty International, Human Rights Watch oder die Menschrenchtenkommission der Organisation Amerikanischer Staaten berichteten – Berichterstattungen, die die Regierung Piñeras zurückwies. Die politische Dimension der Proteste konnte nicht mehr ignoriert werden: Die politischen Parteien Chiles schliessen ein Abkommen für den Frieden und eine neue Verfassung – der Abkommen wurde dennoch ohne Berücksichtigung der Zivilgesellschaft getroffen, was dazu führte, dass sich die kommunistische Partei daran nicht beteiligte. Der Prozess für eine neue Verfassung wurde in Gang gesetzt, öffnete aber zahlreiche Fragen. Eine weitere politische Folge der Proteste bzw. der staatlichen Handlungen gegen die Proteste war die Zustimmung für Piñera, die Mitte Januar auf 6 Prozent gesunken ist. Jegliche politische Äusserung und Handlung der Regierung oder der ParlamentarierInnen wird ins Visier der Proteste genommen. Demonstrationen und Versammlungen riefen ihre Anforderungen für die neue Verfassung. Sie sind Teil des politischen Lebens geworden. „Die Revolution wird antikapitalistisch, umweltschutzend, antirassistisch und feministisch“, lautete ein Leitzsatz in den Protesten. Regionen werden seit Jahrzehnten in Namen des wirtschaftlichen Wachstums verschmutzt, die Rechte der indigenen Bevölkerung werden nicht anerkannt, Frauen werden diskriminiert und getötet. Keine Revolution, dennoch eine neue Verfassung könnte dies ändern.

Zwar bleibt die Unterstützung für eine neue Verfassung in den Umfragen weiterhin hoch bleibt, doch gleichzeitig verschwören die Manövern der rechten politischen Parteien erneut die Gespenste der Diktatur: Zunächst versuchten sie die Geschlechterparität und die Teilnahme indigener VertreterInnen an der verfassungsgegeben Versammlung zu blockieren und jetzt gehen sie auf die Propagandabarrikaden gegen die neue Verfassung. Trotz der Rhetorik und Handlungen der Regierung bleibt die Kraft der Proteste hoch. Das neue Jahr begann mit dem Boykott der PSU, der Aufnahmeprüfung für die Universitäten, seitens SchülerInnen und die chilenischen feministische Bewegung zeigte erneut ihr Impetus mit ihren Demonstrationen am Internationalen Frauentag. Es sind weitere Beispiele der Oktoberr Revolte, die unterschiedlichen sozialen AkteurInnen in ihrem Kampf gegen das neoliberale System vereinte, ein Kampf, der ein neues Chile bildet.



Chile als Wiege des Neoliberalismus: Die Kosten des Lebens

Die neoliberale Ausrichtung der Diktatur war so unzweideutig, dass Ende der 80er-Jahre das Konzept der “kapitalistischen Revolution” geprägt wurde. Die Maschinerie der Diktatur trieb ein “Modernisierungsprojekt” voran, das auf einer Idealisierung des Technischen basierte und sich am wirtschaftlichen Paradigma Milton Friedmanns orientierte. Piñera verfolgte dieses Ideal während seinen beiden Amtszeiten weiter. Sein Kabinett besteht aus UnternehmerInnen, KonzerndirektorInnen und -beraterInnen sowie ÖkonomInnen. Seine Politik ist stark wirtschaftlich ausgerichtet - geeignet für das System des Kapitals, dass die Verfassung von 1980 errichtete. Jene “Modernisierung” ging mit einer Privatisierung des Staates einher. Die Wasser- und Stromversorgung sowie das Gesundheits-, Versicherungs- und Bildungssystem wurden privatisiert; es folgte eine Verschiebung der Akkumulationsmechanismen hin zum privaten Unternehmertum, während sich die Ausgaben systematisch zu Lasten der Arbeitenden, Versicherten, Studierenden und PatientInnen verschoben. Und obwohl Chile im letzten Jahr das Umweltforum COP 25 leitete, hat die neoliberale Wirtschaftsexpansion enorme Umweltschäden verursacht. Neben der häufig erwähnten ungleichen Verteilung von Wasser und dem enormen Wasserverbrauch von Minenunternehmen und Avocadoplantagen, während ganze Landstriche kein Trinkwasser mehr haben, sind die „zonas de sacrificio – sogenannte „geopferte Zonen“- von Luftverschmutzung besonders betroffen. Bisher fehlt in Chile eine angemessene Umweltpolitik, die die Umweltstandards der Industrie kontrolliert und eine fortschreitende Heizungspolitik entwickelt. So gibt es im Industriegürtel Quintero-Puchuncavi, bei der Hafenstadt Valparaíso, seit Jahren überhöhte Messwerte von Kleinstpartikeln und Schwefel. Die Strände der Küstenorte sind regelmässig mit Kohlestaub bedeckt. Bisher hat die Regierung einzig leere Versprechungen gemacht. Aber auch in der 800.000 Einwohnerstadt Temuco, im Süden des Landes, ist die Lage im Winter prekär. In der Stadt, eine der ärmsten des Landes, heizt ein grosser Teil der Bevölkerung im Winter lediglich mit Holz. Die kalten Nächte sind mit decken Rauchschwaden bedeckt. Eine Person aus der Regionalhauptstadt ist in anderen Orten immer durch den Lagerfeuergeruch der Kleidung zu erkennen. Bisher hat es die Regierung auch hier versäumt Alternativen anzubieten. Es gibt etwa nicht – wie in der Zeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in der südlichsten Stadt Punta Arenas gebaute – Gasleitungen, um so eine günstigere Alternative anzubieten. Ein Mensch mit Asthma kann in keinen der beiden Orten leben.

Zu alledem reiht sich heute die Verbreitung des sogenannten Coronavirus. Erste Studien beweisen, dass einedie schlechte Luftqualität die Verbreitung des Virus fördert und den Verlauf der Krankheit verschlechtert. So zeigt sich die enorme Verantwortungslosigkeit der Regierung daran, dass Temuco eine der am meisten betroffenen Städte ist und dies höchstwahrscheinlich weil die regionale Delegierte des Gesundheitsministeriums mehrere Tage, nachdem sie positiv auf das Virus getestet wurde, ohne jeglichen Schutz ihren Geschäften nachging. Des Weiteren verschärfen sich während der Pandemie die Folgen der Privatisierung des Lebens. Während das öffentliche Spital kollabiert, werden Angehörige der lokalen Elite mit Militärflugzeugen nach Santiago gebracht. Dort mietete sich die Regierung im grössten Eventsaal des Landes ein und baut derzeit ein weiteres Spital – es mag kaum jemanden Wundern, dass sich dieses in den Wohlstandvierteln im Osten der Stadt befindet. Denn während die Armen Angst um ihr Leben und gleichzeitig um ein tägliches Einkommen haben, muss das Überleben der Elite gesichert sein. Dies mit Krankenhäusern und Militärs – den auch das ist seit dem Ausbruch von Corona wieder auf den Strassen.

Die Verfassung von 1980 hatte zum Ziel, nicht nur das neoliberale System zu institutionalisieren, sondern auch die Bürgerschaft in KonsumentInnen zu verwandeln. Diese Situation präsentiert sich auch heute noch: Für die Mehrheit der Bevölkerung stellt die Deckung ihrer Lebenskosten eine ständige Herausforderung dar. 70% der chilenischen Haushalte waren 2018 verschuldet. Nun in den Zeiten des COVID-19 nimmt die chronische Ungleichheit fatale Formen an: es geht um das Leben.


Konklusion

Mit der durch das diktatorische Projekt erfolgten Dehumanisierung stand lange Zeit die Frage im Raum, ob die Bevölkerung in der Zukunft jemals Widerstand leisten würde. Oder hat die langwierige Einverleibung des neoliberalen Systems und das Erkennen seiner Defizite die Bevölkerung in eine noch rasendere und hartnäckigere Entität verwandelte? Aufgrund der aktuellen Ereignisse muss die Frage bejaht werden. Die Zivilgesellschaft Chiles wurde zwar von Staat und Markt unterdrückt. Gabriel Salazar behauptete aber zu Recht, dass die Niederlage “eine soziale und historische Erfahrung” ist, die jedoch gleichzeitig eine Quelle des Widerstands ist. Die erste Welle der Mobilisierung brach 2006 mit den Protesten der SchülerInnen über das Land herein. 2010 und 2011 folgten die Hungerstreiks der Mapuches, 2011 die Studentenunruhen. Im Jahr 2016 bildete sich die Bewegung “No + AFP”, die gegen das aktuelle Rentenversicherungssystem protestierte. 2018-2019 kam es schliesslich zur feministische Bewegung, der „Ola Feminista“. Die Proteste der letzten 15 Jahre haben sich der Rückgewinnung sozialer Rechte, die durch das neoliberale System kommerzialisiert worden sind, sowie der Anerkennung wesentlicher Grund- und Menschenrechte, die das politische System aberkannte, verschrieben. Am 18. Oktober 2019 setzten erneut die SchülerInnen die Proteste in Gang, welche sich schnell auf weitere Kreise der Gesellschaft inklusive der Mittelschicht und Teilen der Oberschicht ausdehnten. Was mit einem Protest gegen die Erhöhung der Metropreise um 30 Pesos begonnen hatte, gewann Kraft aus dem Überdruss am politischen und neoliberalen System, das die Mehrheit der Bevölkerung während der letzten 30 Jahre bedrückte. Die Fragilität des chilenischen Staates wurde von jener Zivilgesellschaft blossgelegt, die vom neoliberalen System eigentlich hätte im Rausch des Konsums betäubt werden sollen – nun im Ausbruch der Pandemie ist die Fragilität des menschlichen Lebens im Mittelpunkt. Gleichzeitig ist noch keine klare Perspektive in Sicht. Weder die kommenden Wahlen, noch ein anderer Mechanismus, zeugen davon, dass eine Alternative zur derzeitigen Regierung und Wirtschaftsform an Stärke gewinnt. Es sei zu hoffen, dass die Kraft aus der Wut der Bevölkerung in eine neue gestalterische Kraft verwandelt wird. Denn auch Rassismus, Missgunst und Egoismus machen sich zu Zeiten von Corona breit.



Das Volk gegen den Neoliberalismus. Illustration von Sofía Gallego




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